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Was für Dortmund der BVB ist, das könnte die Göltzschtalbrücke für das Vogtland sein. Zunächst müsste jedoch ein Gespür für Elementares entwickelt werden - sagt Stadtführerin Regina Möller.

Netzschkau. Würde die größte Ziegelbrücke der Welt im Ruhrpott stehen, wie würden Brücke und Brückengelände dort aussehen? Vater und Sohn aus Lünen in der Nähe von Dortmund lassen die Blicke schweifen - so weit das Auge reicht. Weit kommt der Vater nicht.

FP 2017 06 27

"Bei uns wären die Bäume weg. Die Brücke wäre ganz zu sehen. Notfalls aus Sicherheitsgründen, da würden die bei uns keinen Spaß verstehen", sagt Michael Boch und lacht mit der Lockerheit des Tagestouristen. Marius Boch ergänzt: "Schönes Gelände. Ihr habt Glück, die Brücke steht schon hier", sagt der Sohn und erzählt vom Fredenbaumpark, Dortmunds grüner Lunge im Norden der Stadt. Dort steht das Big Tipi, das größte Indianerzelt der Welt, das 2000 bei der Expo in Hannover für Aufsehen gesorgt hatte. Jetzt ist es Kletter- und Eventzentrum. "Und da ist richtig was los." Und sonst?

"Richtig Gastronomie, ein Edelgrill, solche Dinge. In Deusen, an einer alten Müllkippe, da kriegst du mittlerweile die teuersten Steaks von Dortmund gegrillt -80 Euro", erzählt Michael Boch. Und die Brücke selbst? "Da wäre das Logo vom BVB drauf, und auf den Trikots wäre ein gesponsortes Brückenlogo. Wenn diese Brücke in Dortmund stehen würde, würde sich Dortmund mit dieser Brücke schmücken wie mit dem BVB." Marius Boch, der in einer Punkband spielt: "Die Brücke wäre bei uns erlebnismäßig erschlossen, mit Kletterparcours-Anbindung zum Beispiel. Aber super Location. Hier würden wir spielen. " Im Weggehen zum Imbiss am verwaisten Ballonstartplatz, den die BVB-Fans ohne Hinweis ihrer Gastgeber aus Auerbach glatt übersehen hätten, ruft Michael Boch: "Ach was, in zehn Jahren sieht's hier anders aus, ihr kriegt das hin."

Solche Ermunterungen hört Regina Möller nicht oft. Die Reichenbacher Stadtführerin, die am Infopunkt berät und auch Touristen führt, nickt mit dem Kopf. "Das, was die Netzschkauer jetzt so langsam anschieben, das geht in die richtige Richtung. Also das Areal übernehmen und selbst mit anderen gestalten. Die erste Abholzaktion war ein Signal, dafür habe ich mich bedankt. Aber hier wie auf Reichenbacher Seite wurde alles nur abgesägt, das wächst ruckzuck nach."

Und das von Reichenbachs OB geäußerte Vorhaben, mit verschiedenen Attraktionen die Verweildauer von Touristen erhöhen zu wollen? "Ja, sicher, aber zunächst sollten elementare Dinge auf den Weg gebracht werden", erzählt Regina Möller im Infopunkt über ihre Erfahrungen: "Wir brauchen primär einen überdachten Imbiss und eine moderne, auch im Winter geöffnete Toilettenanlage." Wie zur Bekräftigung steckt am Satzende eine offenkundig aus Bayern angereiste Frau ihren Kopf in die Tür: "Grüß Gott, wo sind denn hier die Toiletten?"

Regina Möller verkneift sich ein Lachen. Dann zeigt sie zum Gebüsch am Mühlgraben, das oft als stilles Örtchen genutzt wird. "Wir haben schon ein Schild am Häuschen angebracht, aber das hilft auch nur begrenzt", sagt die Stadtführerin und eilt zu einer Truppe von Bikern, die Kurs aufs Gebüsch nehmen. Statt Erleichterung erfahren die in Lederklamotten gepackten Hünen nun Eckpunkte zur Brückenhistorie. Da kennt Regina Möller nichts. Die Truppe nimmt's mit Humor. "Danke, Frau Möller", sagt ein Biker mit Blick auf das Namensschild an Regina Möllers Jacke. Der Mann hätte das Schild wohl gern als Souvenir mitgenommen. "Auch das fehlt hier. Die Leute wollen mehr mit nach Hause nehmen als ein Foto."

Frau Möller bekennt sich gerne zur ihrer Geburtsstadt Reichenbach und dem Vogtland. "Hier bin ich aufgewachsen, das ist Heimat." Aber es war ein langer Weg dahin. "In der Schule haben wir alles mögliche erfahren, nur über Heimat und ihre Geschichte nichts. Doch man schätzt und entwickelt nur das, was man kennt." Auch unter diesem Gesichtspunkt schaut sich Regina Möller die Brücken-Besucher an. "Schulklassen sehe ich kaum. Zu Fuß gar keine. Einmal waren welche da - die meisten Lehrer sind mit den Kindern nur bis zum Spielplatz gekommen. Ein Besuch zum Abhaken. Dabei hat die Brücke so viele Dimensionen - wenn man sich Zeit nimmt."

Oder ein anderes Beispiel: Mit Dritt- und Viertklässlern der Dittesschule war Regina Möller im Rahmen ihres Projekts "Reichenbach entdecken" von der Schule zum Obermylauer Höhenweg mit seinem herrlichen Blick auf die Brücke gelaufen. "Die waren noch nie dort. Heute sind die Kinder mehr unterwegs als wir damals. Aber mit dem Auto. Die wissen oft gar nicht, wo sie waren. Nur wer Wege geht, erarbeitet sich eine lebendige Beziehung dazu. Darauf kann man bauen; nicht auf eine Powerpoint-Präsentation."

Oder: Wer lebendig erzählt, steckt andere an. Regina Möller hat mal einen angeheiterten Verein Männer umgedreht. "Die wollten bloß kurz gucken und fragten mich, wie viele denn hier schon gesprungen wären." Die Antwort der Stadt- und Brückenführerin: "Nennen Sie mir doch mal ein hohes Bauwerk, von dem noch keiner gesprungen ist." Antwort: "Stimmt." Das war der Auftakt für eine nicht eingeplante Führung, nach deren Ende sich der Vereinschef bedankte: "Dass wir hier für eine so kurzweilige Stunde bleiben würden, das hätten wir nicht gedacht." Bei solchen Gelegenheiten sagt Regina Möller dann gerne: "Sagen Sie's bitte weiter: Die Göltzschtalbrücke hat immer geöffnet."

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